Zwangsjackenfrei Richtung Wahnsinn

Ich gestehe: Betriebssitzungen sind nicht meins. Sie senken meinen Arbeitseifer. Untergraben kurzfristig meine Loyalität zur Firma. Sind meist eine Ausgeburt von Langeweile.

Montag, 7.29 Uhr. Unsere Chefin – absonderlich gut gelaunt und geradezu aufdringlich lächelnd in Anbetracht von Wochentag und Uhrzeit – knipst die allererste PowerPoint-Folie an: «Herzlich Willkommen zur heutigen…» Zwei Fragen:

1. Warum muss Ausgesprochenes zugleich vorne hingebeamt werden?
2. Wird «Willkommen» nicht kleingeschrieben 

Letzteres beantwortet mein Handy subito: Es wird. Jetzt den Arm monierend zu heben, wäre natürlich eine Option – aber ein Faux pas sondergleichen und zugleich eine Einladung zu einem Tête-à-Tête mit oben Genannter am Folgetag… Da kennt sie gar nichts.
Unsere Firma oder Gesellschaft hat sich spezialisiert auf das Versichern von Handys, Brillen und Reisegepäck – exakt das also, was niemand wirklich braucht. Ein andauerndes moralisches Dilemma. Da sind unzählige Konferenzen, Besprechungen und psychologische Vor- und Nachbetreuungen selbstredend unverzichtbar.
Die Vollversammlung (38 Schlecht- bis Normalverdienende plus die Chefetage) sitzt nicht wie im Kino, sondern hufeisenförmig zwangsbestuhlt. Dies – so wurde einst verkündet – steigere das Zusammengehörigkeitsgefühl. Ach was? Nähe meide ich, nach Kuscheln ist mir schon gar nicht.

Die Traktandenliste:
- Begrüssung (7.30 Uhr)

- Referat von Prof. Dr. Verena Hölzle-Abderhalden zum Thema «Nachhaltige Mitarbeitendenmotivation als Schlüssel zum Unternehmenserfolg»

- Fragen, Diskussion

- Diverses

- Ende: ca. 9.30 Uhr

Auf das Gefloskel der Dauerlächelnden folgt die Aufführung von Prof. Dr. HA, Referentin vom Institut für Betriebsökonomie, Spezialgebiet: «Nachhaltige Mitarbeitendenmotivation als …»
Die Ordinaria – bemüht um perfektes Deutsch (was sie nicht im Ansatz auf die Reihe kriegt) – lässt die zweite Folie erscheinen. Eine unüberschaubare Ansammlung von Apps, von denen «einige inskünftig Teil Ihres Arbeitsalltags» zu werden drohen, leuchtet in grellen Farben auf.
Mein Stuhl steht weit hinten. Mir fehlen Adleraugen, trotzdem fühle ich mich optisch reizüberflutet angesichts der kunterbunten App-Logos. Kollege Patrick links vor mir putzt sich die Brille. Helfen wird das kaum… Ich glaube, in der Ferne «GoDaddy» und «SurveyMonkey» zu erkennen. Nie gehört. Aber affig – das passt. «Google» ist mir als Suchmaschine geläufig. Aber ist das auch eine Applikation? Egal.

Weit interessanter und besser zu sehen ist die Vortragende.

Hölzle-Abderhaldens sopranhohe Piepsstimme schmerzt. Zusammen mit dem Hochdeutsch-Dialekt entsteht kein akustisch überzeugendes Gesamtpaket. (Darunter dürften sowohl Motivation als auch Nachhaltigkeit leiden…) Herr Hölzle tut mir leid. Dauernd dieses Geziepe, bisweilen wohl auch des Nachts. Der arme Mann.
Frau Professor (oder heisst es Frau Professorin?) geht auf einige Apps detailliert ein. Wenn’s sein muss. Sie trägt ein Kleid mit Blümchenmuster, das mich an die bequemen Schürzen meiner Grossmutter selig erinnert – allerdings derart eng geschnitten, dass Adipöses unter Körperbetonendem unübersehbar ist, was als «Erregung öffentlichen Ärgernisses» zu ahnden wäre (wobei ich das Wort «Erregung» nicht falsch verstanden wissen möchte). Linkerseits lächelt die rehschlanke Kollegin Conny (Abteilung Onlineberatung mittels Video-Chat) dezent-süffisant und blickt zu mir. Wir denken gleichzeitig das Gleiche.

Die nächsten PP-Folien verdöse ich in behaglich-bequemer Sitzposition.

Das rechte Auge geschlossen, das linke Richtung Geschäftsleitung offen. Nur ich kann das. Diese Technik habe ich mir in all den Sitzungs- und Konferenzjahren – aus der Not geboren – angeeignet. Satzfragmente und Worthülsen wie «Bereit für Neues…», «qualitativ hochstehende Beratung», «intensiv reflektieren» und «…der Schlüssel für Innovationskultur…» erreichen und verlassen mein Gehirn (im Sparmodus) praktisch zeitgleich. «Tausendmal ist nix passiert» von Klaus Lage fällt mir ein. «Same procedure as every year» halt… Ich wundere mich ganz nebenbei, wie jemand derart Inhaltsarmes in so viele Wörter packen kann. Aber schliesslich bekommt niemand einen «Prof. Dr.» geschenkt… Auch nicht die Hölzle.

Das offene Auge lasse ich zwischendurch schweifen.

Hannes vis-à-vis wirkt ungefähr so aufmerksam wie ein Taubstummer im Musikverein. Nachvollziehbar. Ist er eines «plötzlichen Sitzungstods» erlegen? Seine leicht vibrierenden (geschlossenen) Augenlider sprechen dagegen. (Verantwortlich ist er bei uns übrigens für «proaktives Informieren bei Gesetzesänderungen». Faktisch: Er macht nichts.) Das Führungs-Quintett hingegen (das macht auch nichts) blickt betont konzentriert und wohlgestimmt Richtung professoraler Blumenschürze. Das MUSS gespielt sein. Was für Schleimer…

Rechts neben mir sitzt Adrian von der «Beschwichtigungsabteilung für und gegen schwierige Kundschaft» wie schockgefroren mit verschränkten Armen und weit aufgerissenen Augen – als stünde der Leibhaftige persönlich vor ihm. Dennoch scheint auch er komplett weggetreten. Das ist wohl seine Taktik, die Zeit zu beschleunigen – sowohl im Kundenkontakt als auch während Sitzungen. Einsteins Relativitätstheorie fällt mir ein; verstanden habe ich sie nie. Zu wissen glaube ich aber, dass Fische und Fliegen mit offenen Augen schlafen können. Adrian ist ein Wunder der Natur. Wie DJ Ötzi.
Links von mir wird’s gefährlich. Conny dämmert vor sich hin, ihre Haltung ist ungesund diagonal, der Körperschwerpunkt liegt nur noch knapp über dem Stuhl. Maximal zwei, drei Minuten gebe ich ihr – dann wird sie garantiert geräuschvoll gen Boden driften und somit bildlich gesprochen geradewegs in eine Abmahnung. Da ich sie mag, tippe ich – bekannt als teamfähiger Teamplayer – bewusst nicht übergriffig ihre Schulter an. Sie erwacht Gott sei Dank unauffällig und schenkt mir ein bezauberndes Lächeln. Das kostet sie ein Feierabendbier beim beliebten Italiener um die Ecke!
Das Traktandum «Fragen, Diskussion» wird zum peinlichen Leerlauf. Die Belegschaft schweigt aufmüpfig. Die Engverpackte wirkt aber nur kurz irritiert. Scheinbar…

Was nun folgt, geht mit Sicherheit in die Annalen der Handy-, Brillen und Reisegepäck-Firma ein.

Frau Prof. Dr. Verena Hölzle-Abderhalden schöpft jetzt (vom Leerlauf frustriert) aus dem Vollen, geht ganz aus sich heraus und weiter – viel, viel weiter. Es ist erst 9.20 Uhr – ihr Stundenansatz dürfte in etwa meinem Monatslohn (brutto!) entsprechen. Da muss schon noch etwas kommen. Es kommt…

Vreni im Blümchenkleid leitet unübersehbar die finale Appellphase ein. Sie tänzelt – deutlich desorientiert – wie eine betrunkene Ballerina mit Übergewicht ins Hufeisen hinein, steigert sich dabei oktavial in Höhen, die einst Maria Callas vorbehalten waren. Ihre Mimik erinnert mich an Jack Nicholsons Fratze in «Shining». Unsere Führungsriege: fassungslos und handlungsunfähig. Nichts Neues…
Wir werden gerade Zeugen einer unfassbaren Verwandlung. Kafka grüsst aus der Vergangenheit. Womöglich zwecks Verstärkung ihre Gequiekes rudert Prof. Dr. – nunmehr gänzlich ausser Kontrolle – mit den Armen: so, als würde sie sich dagegen wehren, in eine Zwangsjacke gesteckt zu werden. Mir fällt der italienische Wirt ein (gleich um die Ecke), der ihr hinsichtlich Gestik fast ebenbürtig ist, und zwar immer dann, wenn er seine einzige Aushilfskraft zusammenstaucht. Sitzungen gibt’s dort keine …
Ihre Aufforderungen «Zeigen Sie Dankbarkeit», «Bleiben Sie sich treu», «Alle haben einen Beitrag zu leisten» kommen zumindest akustisch an. Das Zeitabsitzen dürfte allen 43 vergangen sein. Mittlerweile zappelt sie direkt vor mir und DJ Ötzi, der abrupt aufgetaut sein muss.

Prof. Verena Callas hat den Grenzbereich zum Pathologischen definitiv hinter sich gelassen.

Der Sopran der exzessiv Entfesselten überschlägt sich, in Hüfthöhe rechts reisst das Schürzenkleid, ihr rechter Arm zuckt wie bei einem Dirigenten unter Speed und Ecstasy. Man wird sie einweisen müssen. Der arme Herr Hölzle. (Oder der glückliche…?)
Es ist exakt 9.28 Uhr. «Wir rudern alle im gleichen Boot!» Während ich über das unpassende «Wir» nachsinne, erscheint vorne zur Veranschaulichung wie von Geisterhand initiiert die wohl letzte PowerPoint-Folie (bevor die Ambulanz eintrifft): eine gezeichnete Galeere mit rudernden Männern. Wo sind unsere Frauen? Ist das Schiff versichert? Wo ist die Geschäftsleitung? (Die lässt es sich wohl in der Kombüse bei Speis und Trank gut gehen...)
Die frisch gebackene Patientin, noch zwangsjackenfrei, setzt unstoppbar zum Schlussakkord an: «Suchen Sie immer die Nähe zur Kundschaft!» Das altbekannte Motto unserer Versicherungsgesellschaft.
Mein ehemaliger Kollege Max hat den geforderten «Kundinnen-Kontakt» vor einigen Monaten etwas zu wörtlich verstanden und lendenkräftig umgesetzt. «Im gegenseitigen Einvernehmen» hat sich das fünfköpfige Führungsteam von ihm getrennt. Seither hat Max keine Pflichtsitzungen mehr. Er arbeitet als Aushilfe in der Pizzeria ums Eck…



Datenschutzhinweis

Diese Webseite verwendet Cookies. Durch die Nutzung der Webseite stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Datenschutzinformationen